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Interview: Digitaler Zwilling im Anlagenbau

STIWA als Vorreiter durch enge Partnerschaft mit Forschung

STIWA als Vorreiter durch enge Partnerschaft mit Forschung 

Die Digitalisierung von Produktionssystemen ist heute eines der wichtigsten Themen für Anlagenbauer und Produktionsbetriebe. STIWA beschäftigt sich seit 25 Jahren mit der vernetzten Produkt- und Hochleistungsautomation und nutzt dabei vor allem das Alleinstellungsmerkmal als Anlagenbauer, Produzent und Softwareentwickler. Gleichzeitig setzt STIWA auf die aktive Kooperation mit Forschungseinrichtungen. Im folgenden Interview zeigen unsere Forschungspartner – Arndt Lüder, geschäftsführender Leiter des Instituts für Arbeitswissenschaft, Fabrikautomatisierung und Fabrikbetrieb der Universität Magdeburg, Stefan Biffl, Professor am Institut für Information Systems Engineering an der TU Wien, und Edgar Weippl, Professor für IT-Sicherheit an der Universität Wien und wissenschaftlicher Leiter des Forschungszentrums SBA Research – den Mehrwert von Forschung für Industrie 4.0 und erzählen warum gerade STIWA dafür der ideale Partner ist.

 

Warum ist es aus Ihrer Sicht wichtig, sich auch in der Forschung verstärkt mit der Produktion der Zukunft auseinanderzusetzen?

Produktionsbetriebe haben verschiedene Anwendungsfälle der Industrie 4.0 im Kopf. Diese reichen von einer verbesserten Überwachung, Diagnose und Wartungsunterstützung über eine automatische Prozessoptimierung bis hin zu einer Selbstorganisation mit maximaler Anlagenflexibilität.

Um mit diesen Herausforderungen umgehen zu können, benötigen Anlagenbauer zum einen eine passende Referenzarchitektur für ihre Anlagen, die der funktionalen Strukturierung der Anlage gerecht wird, und die Bildung und Nutzung von Anlagenkomponenten ermöglicht. Diese Komponenten sind dann mit hinreichender Intelligenz auszurüsten. Diese Intelligenz kann in der Komponente selbst oder in einer der Komponente zuzuordnenden externen Datenverarbeitung (oder in beiden) erfolgen.

Zum anderen benötigen die Anlagenbauer eine Methodik alle für die genannten Anwendungsfälle relevanten Informationen zusammen zu fassen und den Komponenten als digitales Abbild, digitalen Schatten oder digitalen Zwilling zuzuordnen und dabei die der Komponente zugeordnete Intelligenz zu nutzen. Es muss dabei unerheblich sein, aus welcher Lebenszyklusphase der Anlage (Engineering, Anlauf, Nutzung, …) die relevanten Informationen stammen.

Entsprechend müssen sich Anlagenbauer mit funktionalen Anlagenstrukturen und dem Informationshaushalt entlang des gesamten Lebenszyklus‘ dieser Anlagen beschäftigen und verstehen, welcher Anwendungsfall der Industrie 4.0 welchen Nutzen auf Basis welcher Strukturen erbringen kann.

Und ganz nebenbei kommt eine weitere, kritische Herausforderung auf uns zu: das Themenfeld der Informationssicherheit, Cyber Security. Wachsende digitale Fähigkeiten und zunehmend verfügbare Informationsmodelle ermöglichen neue Arten von Angriffen auf Produktionssysteme. Dem müssen Anlagenbauer bei der Gestaltung ihrer Anlagenstrukturen und Informationsmodelle gerecht werden und entsprechende technische wie organisatorische Sicherheitsstrukturen entlang des gesamten Anlagenlebenszyklus etablieren.

Diese Herausforderungen erfordern Forschung an Universitäten gemeinsam mit Anlagenbauern.

 

Warum ist STIWA in diesem Bereich für Sie ein interessanter Partner?

Um ein guter Forschungspartner zu sein, sind drei Eigenschaften eines Unternehmens wesentlich. Zum einen sollte ein Unternehmen selbst eine ausgeprägte Innovationskultur besitzen, in deren Rahmen auch mal unbequeme Wege und Themen untersucht und ihr Nutzen (oder auch Nichtnutzen) für ein Unternehmen oder spezifische Systeme herausgearbeitet werden. Darüber hinaus muss ein Unternehmen im Engineering-Bereich einen ausreichenden Reifegrad erreicht haben. Beispiele sind ein gelebter modellbasierter Systementwurf, anerkannte durchgängige Entwurfsprozesse und eine entsprechende Werkzeuglandschaft. Zum dritten ist eine gewisse Anwendungsbreite, sprich eine größere Menge von unterschiedlichen industriellen Bereichen, aus denen die Kunden kommen und in denen damit die entwickelten Anlagen genutzt werden, zu nennen. Dies ermöglicht eine breitere Validierung der Forschungsergebnisse.

All diese Eigenschaften sind bei STIWA erfüllt. Dazu kommt noch ein vertrauensvolles und freundschaftliches Klima der Zusammenarbeit, um das sich die Kollegen der STIWA stets bemühen, und das Forschung nicht nur spannend sondern auch zunehmend erfolgreich für beide Seiten macht.

 

An welchen Projekten wird im Rahmen dieser Forschungskooperation gerade gearbeitet?

Themenhintergrund der Forschungskooperation sind der durchgängige Entwurf von Produktionssystemen und die dabei notwendige Cyber Security sowohl der Anlage als auch des Entwurfsprozesses. Dieses sehr komplexe Themenfeld kann nicht sinnvoll in einem Stück bearbeitet werden. Es benötigt initial umfassende Betrachtungen des modellbasierten Entwurfs von Produktionssystemen, des dabei notwendigen Informationshaushaltes und seiner Strukturierung entlang der Werkzeugketten sowohl aus Sicht der beteiligten Ingenieursdisziplinen als auch der entworfenen Assets, als auch entsprechender Informationsmodelle. Ziel muss hier sein, eine Infrastruktur zu schaffen, die eine Integration aller Entwurfsinformationen hin zu einem digitalen Abbild (und später zu digitalem Schatten und oder einem digitalen Zwilling) für alle Anlagenteile erbringt, sodass alle an einem Anlagenprojekt Beteiligten diesen Informationsschatz nutzbringend verwenden können.

Ist dieser Schritt gegangen, können viele Nutzenpotentiale gehoben werden. Beispiele, an denen wir derzeit gemeinsam mit STIWA arbeiten, sind die explizite Nutzung von Produkt-Prozess-Ressource (PPR)-Modellen, d.h. der Zusammenhänge zwischen Materialliste, Herstellungsvorschriften und zu nutzenden Ressourcen, zur Identifikation von wiederverwendbaren Funktionseinheiten für das Engineering und zur Verbesserung der Interaktion von Ingenieuren im Grundlagen- und Detail-Engineering oder die Identifikation von Cyber Security Aspekten. Die vertiefte Forschung auf diesem Gebiet macht es STIWA möglich, in extrem kurzer Durchlaufzeit hochkomplexe und qualitativ hochwerte Anlagen zu realisieren.

 

“Digitaler Zwilling“, „Digitaler Schatten“ und „Digitales Abbild“ sind zur Zeit vielzitierte Begriffe im Anlagenbau bzw. Anlagenbetrieb. Was versteht man eigentlich darunter?

Voraussetzung für die Digitalisierung sind Informationsstrukturen, die das Wissen über dieses System abbilden. Dazu sind aktuell drei Begrifflichkeiten stark in Verwendung.

Das digitale Abbild wird als digitales Modell eines physischen, technischen Systems verstanden, das dieses System beschreibt. Dabei besteht keine direkte Abhängigkeit zwischen dem physischen System und dem digitalen Abbild. Damit kann das digitale Abbild bereits vorhanden sein, wenn das physische System noch nicht oder nicht mehr existiert, oder sich verändert hat. Das digitale Abbild ist somit prädestiniert für eine Nutzung in der Entwurfsphase eines technischen Systems, um schrittweise alle Informationen zu aggregieren, die für eine spätere erfolgreiche Realisierung und Nutzung des physischen technischen Systems notwendig sind.

Der zweite Begriff ist der digitale Schatten. Er ist mit dem physischen technischen Objekt unidirektional verbunden, d.h. er verändert sich, wenn sich das physische Objekt verändert. Er bildet damit zu jedem Zeitpunkt Struktur, Zustand und Verhalten des physischen technischen Systems ab und macht insbesondere dann Sinn, wenn das physische System existiert und genutzt wird. Damit kann der digitale Schatten insbesondere zur Analyse eines bestehenden technischen Systems genutzt werden, zum Beispiel zur Verhaltensprognose (Simulation).

Der dritte Begriff ist der digitale Zwilling. Im Gegensatz zum digitalen Schatten ist er bidirektional mit dem physischen technischen Objekt verbunden. Der digitale Zwilling (a) ändert sich, wenn sich das physische Objekt verändert und (b) bewirkt mit einer eigenen Änderung eine Änderung des physischen Objektes. Damit ermöglicht er nicht nur eine Analyse des physischen Objekts, sondern ermöglicht auch eine Rückwirkung der Analyseergebnisse.

Um den Anforderungen der Industrie 4.0 gerecht zu werden, müssen alle drei Rollen verfolgt werden.

 

Wohin geht aus Ihrer Sicht die Reise in der Zukunft?

Engineering-Daten bilden einen wertvollen Wissensschatz. Sie können an den verschiedensten Stellen helfen Effizienz und Effektivität zu verbessern, sowohl im Entwurf von Produktionssystemen als auch in deren Betrieb und Rückbau. Dieser Wissensschatz wird nach und nach gehoben werden. Dabei wird die Industrie 4.0 eine wichtige Rolle spielen.

So können digitale Abbilder der Komponenten entworfener und bestehender Produktionssysteme verglichen und hinsichtlich ihrer Ähnlichkeit bewertet werden. Auf dieser Basis können verlässliche, wiederverwendbare Komponenten gewonnen und qualitätssichernd im Entwurfsprozess verwendet werden. Hier wird es sicher einige Reibungen geben, die sich aus gewohnten Pfaden der Endnutzer, etwa beliebten Strukturen oder Programmiervorgaben, ergeben. Der gemeinsame Qualitäts- und Kostengewinn wird hier hoffentlich schnell zu einer Unternehmen übergreifenden Standardisierung von Strukturen und Programmiermethoden führen.

Ein anderes Beispiel ist die Unterstützung bei der Informationsgewinnung zum Round-Trip-Engineering. Veränderungen in Anlagenstrukturen müssen zum Beispiel in den Modellen der Sicherheitsanalyse (z.B. FMEA) oder der IT-Security Analyse nachgezogen werden. Hier können vernetzte Modelle auf Basis der digitalen Abbilder die Arbeiten erleichtern, beschleunigen und für fachliche Sicherheit sorgen.

Ebenso kann der Wissensschatz für eine Optimierung der Produktqualität oder eine Bewertung von IT-Security Eigenschaften verwendet werden.

Wichtigste Voraussetzung für all diese Nutzungen ist jedoch die Realisierung von effizienten Methoden zur Sammlung und Integration von Engineering-Daten aus allen relevanten Engineering-Disziplinen und deren Kondensation zu Netzwerken digitaler Repräsentationen für Produkte, Prozesse und Produktionsressourcen (PPR). Hier müssen in Zukunft verstärkt Methoden und technische Lösungen geschaffen werden, die den Anforderungen der unterschiedlichen Unternehmen und ihren Arbeitsweisen gerecht werden können. Hier wird es wahrscheinlich nicht nur eine Vorzugslösung geben.

 

Der Anlagenprozess umfasst verschiedene Disziplinen (Mechanik, Elektrik, Software): Wie können transparente Prozesse für einen allgemein gültigen Datenbestand quer über alle Disziplinen sichergestellt werden? Speziell auch im Hinblick auf den Rückfluss der Informationen von der Detaillierung auf die Grobplanung?

Der Anlagenentstehungsprozess ist von Natur aus ein multi-disziplinärer Prozess, in dem schrittweise und teilweise iterativ verschiedenste Modelle in den beteiligten Ingenieursdisziplinen entstehen und geteilt werden müssen. Hier kann und muss eine Entwurfsdatenlogistik zum Einsatz kommen, die nicht nur den puren Austausch der erstellten Modelle bzw. Dokumente sicherstellt, sondern die auch deren Inhalte erschließt und zu einer geschlossenen und konsistenten Wissenswelt über die entworfenen Anlagenkomponenten bis hinunter zu Sensoren und Aktoren zusammenzieht.

Diese Wissenswelt ist der oben angesprochene Wissensschatz. Er muss der Idee des digitalen Abbildes folgen und die verschiedenen Abbilder der Anlagenkomponenten in Relation zu einander setzen. Aus ihm können die Informationen, die eine Entwurfsdisziplin benötigt, automatisch extrahiert werden. Damit können beliebige Vorwärts- und Rückwärtsbewegungen im Entwurfsdatenfluss realisiert werden, einschließlich Round-Trip. Sämtliche Informationen bauen immer auf einem gemeinsamen konsistenten Datenbestand auf.

Die Umsetzung einer derartigen Datenlogistik kommt ohne Änderung der Entwurfswerkzeuge aus. Sie benötigt ein Verständnis über die, in den einzelnen Entwurfsdisziplinen relevanten, Anlagenobjekte, deren beschreibende Eigenschaften und Relationen. Diese müssen einmalig zu einem, für die betreffende Werkzeugkette relevanten, gemeinsamen Verständnis zusammengezogen werden und können dann für die Konfiguration von Modelltransformationen hin zu einem, an die Industrie-4.0-Verwaltungsschale angelehnten, Datenmodell verwendet werden. Damit entsteht ein Daten-Backbone, der sich als großer Wissensschatz erweisen wird.

 

Wie kann der IT-Security-Aspekt im gesamten Anlagenprozess integriert werden?

IT-Security ist etwas, das in einem Produktionssystem ganzheitlich betrachtet werden muss. Hier liegen neben internationalen und nationalen Normen auch Vorgehensmodelle vor, die eine Betrachtung der Anlagen aus dem Blickwinkel ihrer Angreifbarkeit erfordern. Dies setzt voraus, dass ausreichend Wissen über Struktur und Verhalten des Produktionssystems zugänglich ist. Der oben genannte Wissensschatz aus dem Anlagen-Engineering enthält dieses Wissen und muss entsprechend zur Anwendung gebracht werden. Das setzt voraus, dass das IT-Security Engineering nicht nur ein Anhängsel sondern integraler Bestandteil des Anlagenentwurfes ist.

Nutzbringend kommt dazu, dass für die Umsetzung von IT-Security-Maßnahmen die Idee der Wiederverwendung von großer Bedeutung ist. Kann im Anlagenentwurf auf Komponenten zurückgegriffen werden, für die bereits IT-Security-Konzepte bestehen und entsprechend im digitalen Abbild dokumentiert sind, dann ist die Umsetzung von Gesamtkonzepten nicht nur schneller sondern auch sicherer und ggf. einfacher zu zertifizieren.

 

Vielen Dank für das Interview!

 

Die Interviewpartner:

 

Apl. Prof. Dr.-Ing.habil. Arndt Lüder
Geschäftsführender Leiter des Instituts für Arbeitswissenschaft, Fabrikautomatisierung und Fabrikbetrieb
Lehrstuhl Produktionssysteme und -automatisierung
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Ao. Univ.Prof. Dr. Stefan Biffl
Professor am Institut Information Systems Engineering an der TU Wien
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Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Mag. Dr. techn.Edgar Weippl
Professor für Sicherheit und Datenschutz an der Universität Wien
Leiter des CD-Labors für Verbesserung von Sicherheit und Qualität in Produktionssystemen (Christian Doppler Forschungsgesellschaft), Wissenschaftlicher Leiter des Forschungszentrums SBA Research, Privatdozent an der TU Wien
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